Prof. Dr. Hans Alves ist Professor für Soziale Kognition an der Fakultät für Psychologie.
ERC Consolidator Grant 2026
Der Blickwinkel entscheidet oft darüber, ob soziale Unterschiede als groß oder klein wahrgenommen werden. Das untersucht Hans Alves in seinem ERC-Projekt „The Attribute Frequency Model: Understanding and Mitigating Biases in Social Perception”.
Wie entstehen verzerrte Bilder von sozialen Gruppen – etwa von Frauen und Männern, Zugewanderten und Einheimischen oder ethnischen Minderheiten? Warum erscheinen Unterschiede und Ungleichheiten in der öffentlichen Debatte manchmal dramatischer, als es die Statistiken nahelegen – und in anderen Fällen eher verharmlost? Diesen Fragen geht Prof. Dr. Hans Alves in seinem ERC-Consolidator-Projekt „The Attribute Frequency Model: Understanding and Mitigating Biases in Social Perception“ nach. Er entwickelt ein neues Modell der sozialen Wahrnehmung, das viele dieser Verzerrungen auf einen einfachen, bislang unterschätzten Mechanismus zurückführt: die Häufigkeit bestimmter Merkmale in unserer sozialen Umwelt.
Das „Attributfrequenz-Modell“ geht davon aus, dass wir Gruppen je nachdem unterschiedlich beurteilen, ob wir über seltene oder über häufige Merkmale nachdenken – etwa über Arbeitslosigkeit (selten) oder Beschäftigung (häufig), über Spitzenpositionen oder durchschnittliche Jobs, über schwere Straftaten oder den normalen, meist konfliktarmen Alltag. Wenn wir uns auf seltene Merkmale konzentrieren, wirken Gruppenunterschiede in der Regel größer und Ungleichheiten extremer; wenn wir über häufige Merkmale nachdenken, erscheinen dieselben Gruppen oft deutlich ähnlicher und Ungleichheiten kleiner.
Konkrete Zahlen aus Deutschland zeigen, wie stark dieser Perspektivwechsel ist: Im Jahr 2020 lag die Arbeitslosenquote unter Zugewanderten bei 14,4 Prozent, unter deutschen Staatsbürgern bei 4,7 Prozent. Zugewanderte waren also mehr als dreimal so häufig arbeitslos wie deutsche Staatsbürger – ein sehr klarer Unterschied. Betrachtet man jedoch die Beschäftigungsquoten, zeigt sich: 85,6 Prozent der Zugewanderten und 95,3 Prozent der Deutschen waren erwerbstätig; Deutsche waren damit nur etwa 1,2-mal so häufig beschäftigt wie Zugewanderte. Die gleiche soziale Realität kann also je nach Blickwinkel als starker Unterschied (Arbeitslosigkeit) oder als relativ große Ähnlichkeit (Beschäftigung) erscheinen – mit der Gefahr, Ungleichheiten zu über- oder zu unterschätzen.
Das Projekt geht davon aus, dass Menschen solche statistischen Zusammenhänge in ihrem Alltag kaum durchschauen – eine Form von „meta-kognitiver Kurzsichtigkeit“. Seltene Merkmale sind zugleich besonders auffällig: Sie signalisieren Probleme (wie Arbeitslosigkeit, schwere Straftaten, seltene schwere Erkrankungen) oder außergewöhnliche Erfolge (wie Spitzeneinkommen, Spitzenpositionen) und dominieren daher häufig Medienberichte und Alltagsgespräche.
Das ERC-Projekt untersucht diese Annahmen mit einem breiten Methodenmix: Geplant sind Online-Experimente mit Tausenden Teilnehmenden, in denen reale Statistiken zu Einkommen, Vermögen, Arbeitsmarkt, Hochschulkarrieren oder Kriminalität in unterschiedlichen Formaten präsentiert werden. Hinzu kommen Analysen großer Datensätze aus amtlichen Statistiken sowie Inhaltsanalysen von Medienberichten und sozialen Medien, um zu prüfen, ob öffentliche Kommunikation tatsächlich systematisch seltene Extreme oder eher häufige Normalfälle in den Vordergrund rückt – und wie sich das auf die Einschätzung von Ungleichheit und gesellschaftlicher Lage auswirkt. Schließlich wird das Team testen, ob große Sprachmodelle (künstliche Intelligenz) ähnliche Verzerrungsmuster zeigen wie Menschen.
Ein zentrales Ziel des Projekts ist es, konkrete Empfehlungen zu entwickeln, wie Informationen über soziale Ungleichheiten künftig besser dargestellt werden können – etwa durch die gleichzeitige Darstellung seltener und häufiger Merkmale oder durch Kennzahlen, die weniger anfällig für Verzerrungen sind. Die Ergebnisse sollen Politik, Verwaltung, Medien und Organisationen dabei unterstützen, ein möglichst realistisches Bild sozialer Unterschiede zu vermitteln, Stereotype und Vorurteile abzubauen und Maßnahmen gegen tatsächliche Ungerechtigkeiten dort zu bündeln, wo sie den größten Effekt für die Gesellschaft haben.
Prof. Dr. Hans Alves ist Professor für Soziale Kognition an der Fakultät für Psychologie.